Mach es wie Gott, werde Mensch! – Weihnachtspredigt 2025 von Pfarrer Thomas Winderl

Bild: Daniela Linkmann, 2024

Liebe Schwestern und Brüder hier in Bad Kötzting, liebe Hörerinnen und Hörer am Radio,
„Mach es wie Gott – werde Mensch.“ –
Diese weihnachtliche Aufforderung stammt vom verstorbenen Bischof von Limburg, Franz Kamphaus. Und sie führt mitten in das Geheimnis dieser Nacht hinein: Gott wird Mensch. Ganz unten, ganz verletzlich, ganz nah. Die Erzählung aus dem Lukasevangelium mit dem Engel, mit den Hirten, mit Josef und Maria und mit dem Kind in der Krippe beschreibt das in einfachen und starken Bildern: Gott wird Mensch.
So etwas gab und gibt es nirgends und niemals in der Geschichte der Religionen. In allen anderen Religionen gibt es einen Abstand zwischen Gott oder den Göttern und uns Menschen. Nicht im christlichen Glauben. Unser Gott will nicht weit weg bleiben, sondern ganz nah sein. Er wird Mensch wie wir. Manchmal frage ich mich: Haben wir uns vielleicht so sehr an dieses Bild von Gott gewöhnt, dass wir das Einzigartige, das Befreiende daran gar nicht mehr wahrnehmen? Vielleicht hören wir die vertrauten Worte des Evangeliums so oft, dass wir kaum noch spüren, wie radikal sie eigentlich sind. Denn wenn Gott Mensch wird, dann betrifft mich das. Seine Menschwerdung ist eine Einladung an jede und jeden von uns. Der Gott, der Mensch wird, gibt uns die Erlaubnis und schafft die Möglichkeit, selbst ganz Mensch zu werden – im tiefsten Sinn.
Vielleicht kann uns eine Legende helfen, diese Einladung Gottes besser zu verstehen. Sie greift die Erzählung des Lukasevangeliums auf: Nicht nur Ochs und Esel stehen an der Krippe, sondern der Krippe nähert sich noch ein anderes Tier, das dort eigentlich nichts verloren hat – ein Wolf:

Es geschah in jener Nacht, von der das Evangelium berichtet. Die Hirten hatten den Stall verlassen. Ihr Staunen hing noch in der Luft, aber draußen über den Feldern lag wieder die übliche Dunkelheit. In dieser Dunkelheit lauerte ein Wolf. Er war gefürchtet. Er war den Hirten gefolgt. Als sie weg waren, wollte er seinen Hunger stillen. „Ich werde mit dem Kind beginnen“, dachte der Wolf bei sich. Seine Augen waren an die Finsternis gewöhnt, seine Instinkte hellwach. Maria und Josef schliefen erschöpft. Die Luft roch nach Stroh, nach Erde, nach Mensch. Der Wolf schlich leise an die Krippe heran. Er setzte zum Sprung an. Da berührte ihn behutsam und liebevoll die Hand des Jesuskindes. Zum ersten Mal in seinem Leben streichelte den Wolf jemand. Und ganz zärtlich sagte das Kind zum Wolf: „Wolf, ich liebe dich.“ Da geschah etwas Unvorstellbares: Im dunklen Stall von Bethlehem platzte die Tierhaut des Wolfes – und heraus stieg ein Mensch. Ein echter Mensch. So wie Gott ihn von Anfang an gedacht hat. Der Mensch kniete vor der Krippe nieder und betete das Kind an. Diese Berührung würde er sein Leben lang nicht mehr vergessen.


Diese Legende ist keine harmlose Märchenerzählung. Sie ist ein Spiegel. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Dieses alte Sprichwort der Römer ist eine echte Lebenserfahrung. Und wie oft erleben wir auch in unseren Tagen, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf wird. 

An dieser Stelle denke ich an einen Satz von Margot Friedländer, die in diesem Jahr verstorben ist. Als Überlebende der Shoah war sie eine Frau, die wie kaum eine andere um die Möglichkeiten und die Abgründe des Menschseins wusste – und die es auf tragische Weise erfahren musste, wie der Mensch dem Menschen zum Wolf werden kann. Deshalb hat sie Jugendlichen zugerufen: „Seid Menschen.“
Es ist kein moralischer Zeigefinger, sondern ein Ruf aus tiefster Erfahrung: Bleibt nicht in der Wolfshaut stecken. Werdet nicht härter, als ihr sein wollt. Seid den Menschen ein Mensch!
Und wahrscheinlich fallen jeder und jedem von uns weitere Beispiele ein, wo der Mensch dem Menschen ein Wolf ist – im Großen wie im Kleinen. Viele denken vielleicht an die verfahrene weltpolitische Situation, an die Menschen in Amerika, in der Ukraine, in Russland, in Israel; an jene, die Macht hätten, Frieden zu schaffen; oder an die Menschen an so vielen anderen Orten, wo Krieg und Terror und Hunger mit all ihren Schrecken und Gräueln über die Menschen herfallen wie ein reißender Wolf.
Und wahrscheinlich könnte jede und jeder von uns aus dem eigenen Lebensbuch weitere Geschichten davon erzählen.
Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir vielleicht sogar zugeben, dass es auch an uns so etwas wie eine Wolfshaut gibt. Nicht weil wir
grundsätzlich böse wären, aber es gibt in uns Erfahrungen, die uns
manchmal wölfisch werden lassen: Angst, Verletzungen, Enttäuschungen, Überforderung, Mangel an Vertrauen, das Gefühl, nicht genug zu sein. Erfahrungen, die wohl jeder von uns kennt.
Weihnachten verlangt nicht, diese Wolfshaut zu verbergen oder gar zu bekämpfen. Weihnachten mutet uns vielmehr zu, zur Krippe zu gehen und zu glauben: Gott scheut unsere Wolfshaut nicht. Er hat keine Angst davor. Er geht nicht an unserer Dunkelheit vorbei; er steigt in sie hinab. Gott wird Mensch – mitten in der Welt, in der wir tatsächlich leben. Mitten in dem Menschen, der wir tatsächlich sind.
In der Legende geschieht das Entscheidende nicht durch das, was der Wolf tut, sondern durch das, was das Jesuskind macht: durch eine kleine, zärtliche Berührung. Eine Berührung, die verwandelt. Und manchmal geschieht so eine Berührung auch heute – ganz unscheinbar: in einem Wort, das uns unerwartet guttut. In einem Menschen, der bleibt, obwohl wir selbst lieber davongelaufen wären. In einem Moment, in dem wir spüren: Ich bin gemeint. Ich bin gehalten. Ich bin geliebt.
Vielleicht ist es genau das, worum es in dieser Nacht geht: Nicht darum, dass wir uns anstrengen müssen, bessere Menschen zu werden, sondern dass wir uns zunächst von der Liebe Gottes einfach nur berühren lassen. Von seinem Blick, der niemanden verwirft. Von seiner Stimme, die nicht verurteilt, sondern die sagt: „Du Mensch, ich liebe dich.“ Von einem Gott, der so menschlich wird, dass ihm nichts Menschliches mehr fremd ist.

Weihnachten bedeutet nicht, dass unsere Dunkelheiten verschwinden. Aber es bedeutet, dass Gott sie nicht meidet. Er betritt sie – so wie er den Stall betritt. Er berührt sie – so wie das Kind in der Legende den Wolf berührt. Gott verlangt nicht, dass wir durch unsere Leistung menschlicher werden. Es ist genau andersherum: Seine Nähe ermöglicht Verwandlung. Vielleicht ist das die stille Zumutung dieser Nacht: dass wir uns nicht in unserer Wolfshaut einrichten, sondern Gott zutrauen, dass er uns herausführt aus dem, was uns hart macht – hinein in das, was uns frei und glücklich macht; dass er uns durch seine Berührung „verwandelt“.
Wenn wir jetzt miteinander Eucharistie feiern, dann geschieht auch hier „Wandlung“ – nicht durch unsere Kraft, nicht durch unsere Leistung, sondern als reines Geschenk. Wir bringen nichts mit als unser Leben, so wie es ist – und Gott verwandelt Brot und Wein, damit wir uns von ihm nähren lassen können. Wir dürfen ihn uns gewissermaßen „einverleiben“, damit seine Menschlichkeit Schritt für Schritt in uns Raum gewinnt. Dieselbe Liebe, die Brot und Wein verwandelt, kann auch uns verwandeln, kann uns retten.
Darum gilt die Botschaft des Engels nicht nur damals und dort; sie gilt uns hier und heute – hier in der Kirche, an den Radiogeräten, in unserem Leben von heute: Heute ist uns der Retter geboren. Nicht vielleicht, nicht irgendwann, sondern ganz bestimmt und heute.

Lassen wir uns von diesem Gott berühren. Und wer weiß – wenn wir uns dem Kind in der Krippe nähern, im Gebet, im Hören, in einem Augenblick der Stille, mit unserer Sehnsucht –, dann kann es geschehen: dass etwas Altes und Unschönes in uns aufbricht und etwas wahrhaft Menschliches ans Licht kommt. Dass wir Mensch werden. So wie Gott.
Amen.

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